News

Zuschauerkritik - Der Selbstmörder

Eine Inszenierung von Evy Schubert

Ein Heißhunger mitternachts auf Leberwurst – kann das zum Tod führen? Es kann. Aber der Reihe nach.

Am Anfang summt und singt der Chor sphärische Töne von enormem Liebreiz. Nichts deutet auf kommendes Ungemach. Doch dann… Semjon Semjonowitsch Podsekalnikow weckt noch vor dem Morgengrauen seine hart arbeitende und des Schlafes bedürftige Ehefrau mit dem unaufschiebbaren Wunsch nach Leberwurst. Auf Brot oder nur so als blanke Scheibe? Egal, Hauptsache es ist Leberwurst! Und damit kommt ein groteskes komödiantisches Drama in Gang, das seinesgleichen sucht.

Seine Frau bleibt im Bett liegen, will weiterschlafen, gibt ihm demensprechend keine Wurst, jagt ihn aus der Schlafkammer, also macht er sich auf den Weg in die Küche, säbelt eigenhändig ein Stück ab, will es gerade verschlingen, als seine Frau, von Unruhe getrieben, doch noch schlaftrunken in die halbdunkle Küche kommt und in dem Wurstende meint, einen Pistolenknauf zu erkennen. Ihr Mann will sich erschießen – so ihr panischer Gedanke! Warum? Weil sie ihm die Leberwurst verweigert hat? Nein, denkt sie, er schämt sich, weil er so lange schon arbeitslos ist, sie allein das einzige Geld zum knappen Überleben verdienen lässt, und nun sieht er im Freitod wohl den einzigen Ausweg. Plötzlich hellwach und panisch kreischt sie nach ihrer Mutter. Semjon verdrückt sich währenddessen aufs Klo. Die Mutter schreit, bekreuzigt sich ununterbrochen, gibt der Tochter an allem die Schuld, und beide wollen Hilfe vom Nachbarn holen. Der jedoch, frisch verwitwet, tröstet sich an der vollen Brust einer weiteren Nachbarin und hat wenig Empathie für die Schreckensbotschaft: Semjon Semjonowitsch Podsekalnikow will sich ein Selbstmörder werden!

Und so macht diese Nachricht ihre rasante Runde. Alle, einer nach dem anderen, greifen die Neuigkeit auf, drehen und wenden sie und finden gute Gründe, sie für seine eigenen Interessen zu verwerten. Der gewichtige Sprecher der Intelligenzija verkündet geistesgegenwärtig: „In unseren Zeiten kann nur ein Toter aussprechen, was ein Lebender denkt.“ Die geile Nachbarin, die ganz sicher nicht nur den Witwer tröstet, sieht eine wunderbare Gelegenheit, Öl ins Feuer der verschiedenen Leidenschaften zu gießen, indem sie den armen Semjon zu einem weiteren Verehrer stilisiert, in der Hoffnung, die anderen Herren in den Eifersuchtswahn zu treiben und ihre Säfte ordentlich in Wallung zu bringen. Wetten werden ausgelobt, wann und wie wird sich der arme Selbstmörder umbringen? Trauerbriefe entworfen und die Modalitäten seiner Beerdigung geplant. All das beobachtet Semjon, halb hingerissen, welch Bedeutung sein bisher so kleines Leben angesichts seines aussichtsreichen Todes erhalten hat, halb entsetzt, dass man ja nun tatsächlich und endgültig seinen Tod erwartet. Er müsste irgendwie, irgendwo und irgendwann handeln. Aber wie? Ein Leben als toter Märtyrer, als Nationalheld gar, erscheint ihm einerseits durchaus verlockend – andererseits ist und bleibt er ein kleiner Feigling, der an nichts anderem als an seinem Leben hängt. Also beginnt die Gesellschaft ihm zuerst die Sache schmackhaft zu machen, dann übergangslos, ihn unter Druck zu setzen: Die Abschiedsfeier ist gefeiert, Kränze und Blumen sind geliefert, die Schwiegermutter bekreuzigt sich weiterhin ohn‘ Unterlass, wo, zum Teufel bleibt nun der Vollzug des Ablebens? Waffen werden dem zitternden Semjon vorgeführt, Todesarten diskutiert (besser mit dem Schuss ins Herz treffen oder doch in den Kopf? Und dort ins Hirn oder in den Mund?). Das Ende des Dramas überlebt einzig und allein Semjon Semjonowitsch Podsekalnikow – alle anderen liegen von eigener Hand erschossen auf dem Bühnenboden.

Welch ein Spektakel! Ursprünglich hat der Dramatiker Nikolaj Erdmann dieses Stück 1928 geschrieben und es in direktem kritisch-kabarettistischen Bezug zu den politischen Verhältnissen jener Zeit in Russland gesehen. Das führte dazu, dass niemand wagte, es aufzuführen. Erst nach seinem Tod wurde es in Russland 1982 auf die Bühne gebracht. 13 Jahre zuvor fand in Göteborg die Welt-Uraufführung statt.

Aber abgesehen von den politisch-gesellschaftlichen Hintergründen jener Sowjetzeit bleibt doch eine große Schnittmenge mit heutigen Verhältnissen und zeitlosem Verhalten des Menschen an sich. Bigotterie, Heuchlertum, Manipulation, Feigheit, Maulhelderei, Falschheit, Drückebergerei, Betrug und immer und überall ein unbedingter Lebenswille, Nucleus all menschlichen Handelns – nur eine kleine gefällige Auswahl all dessen, was Menschen für sich allein und unter und gegeneinander als Spezies ausmacht.

Evy Schubert, Gastregisseurin mit (inter)nationalem Renomée, hatte fünf kurze Wochen, um mit der hochmotivierten Schauspieler/innen-Gruppe dieses anspruchsvolle Stück zu proben. Und herausgekommen ist ein aufregender Theaterabend mit brillanten Darstellerinnen und Darstellern. Atemberaubend das Tempo, eindrucksvoll Mimik und Choreografie der Bewegungen: ein Ballett des Irrsinns.

Ich hätte im letzten Drittel gerne eine kleine Straffung der Aufführungszeit von ca. 10 Minuten gehabt – der Effekt wäre m.E. dann noch einmal größer gewesen.